Der tunesische Staatspräsident Kais Saied hat in einem verfassungsrechtlich äußerst bedenklichen Schritt die Exekutivgewalt im Land übernommen, indem er den Premierminister abgesetzt und das Parlament für 30 Tage suspendiert hat. Damit wächst die Gefahr, dass Tunesien als einzige Demokratie in der Arabischen Welt in autoritäre Verhaltensmuster zurückfällt.
„Die Berufung des Präsidenten auf den Notstandsartikel der Verfassung ist höchst problematisch und gefährdet die Errungenschaften der demokratischen Revolution Tunesiens. Die friedliche Durchführung der letzten Präsidentenwahlen wie auch der Parlamentswahlen haben gezeigt, dass die Demokratie in Tunesien funktioniert. Die Antwort auf die gegenwärtige innenpolitische Krise kann nicht sein, die verfassungsgemäße Ordnung auszuhebeln. Das würde das Land um viele Jahre zurückwerfen. Ein Staatspräsident darf sich nicht selbst zum obersten Verfassungsrichter ausrufen und sich auch nicht anmaßen, über die Rechtmäßigkeit des Parlaments und die Immunität einzelner Abgeordneter zu urteilen.
Staatspräsident Saied muss jetzt die Rechte des Parlaments wahren und sein Zusammentreten gemäß der Verfassung garantieren. Er muss unverzüglich einen breiten nationalen Dialog aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte ohne Vorbedingungen ermöglichen.
Die verfassungsmäßige Ordnung muss schnellstmöglich wiederhergestellt werden. Die Stabilität Tunesiens ist entscheidend für den Frieden und die Sicherheit im südlichen Mittelmeerraum. Die EU würde stark in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn sich die Lage in Tunesien nicht verbessert. Die internationale Gemeinschaft muss sich dafür einsetzen, dass dieser prodemokratische Übergang nicht in Gefahr gerät.
Tunesien als Ausgangsland des sogenannten Arabischen Frühlings 2010/11 ist es als einzigem arabischen Land gelungen, eine demokratische Regierungsform zu etablieren. Tunesien hat in den letzten Jahren einen beeindruckenden Weg zurückgelegt. Gleichwohl befindet sich das Land seit langem in einer schweren politischen, sozialen und wirtschaftlichen Krise, nicht zuletzt durch die COVID-19-Pandemie und den damit verbundenen Einbruch beim Tourismus, einer der wichtigsten Einnahmequellen des Landes.“
Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher auf spdfraktion.de