„Menschen stärken, Sachen klären“

Sigmar Gabriel will die Türen weit aufmachen. Die Volkspartei SPD muss auch in ihrer Mitgliedschaft die ganze Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehören Facharbeiter ebenso wie Intellektuelle und Selbstständige, so der designierte SPD-Vorsitzende. Seine Forderung an die Partei: hinschauen, hinhören, und „mehr Politik wagen“.

vorwärts: Was muss passieren, um Mitglieder und Wähler der SPD wieder zu ermutigen und Vertrauen zurückzu­gewinnen?

Sigmar Gabriel: Darüber werden wir jetzt intensiv innerhalb der Partei diskutieren. Die Grund­-voraussetzung ist, dass wir wieder eine SPD werden. Nur wenn wir uns trauen und uns gegenseitig etwas zutrauen, werden andere uns vertrauen. Viele, mit denen Andrea Nahles und ich in diesen Tagen und Wochen reden oder die uns schreiben, fordern uns auf: Beteiligt uns mehr. Darum wird es vor allem anderen gehen, denn die Mitglieder unserer SPD sind mehr als Fördermitglieder. Ihre beruflichen, sozialen und politischen Erfahrungen sind der eigentliche Schatz der Mitgliederpartei SPD. Auch diejenigen, die neu bei uns mitmachen wollen, haben viel mehr beizutragen, als ihre Parteibeiträge. Sie werden nur bei uns bleiben, wenn sie sich wirklich beteiligt fühlen. Eine Partei wie die SPD, die an die Kraft der Emanzipation, der Aufklärung und des Arguments glaubt, die für mehr Möglichkeiten zur Volksabstimmung in der deutschen Verfassung eintritt, muss zuallererst in der eigenen Partei zeigen, dass mehr Beteiligung der Mitglieder am Ende auch die politische Führung stärkt. Das wird uns von der zentralistisch geführten One-Man-Show der Partei „Die Linke“ unterscheiden, die in ihren innerparteilichen Strukturen alles andere als aufklärerisch und modern ist.

Ist die Partei noch Spiegel der Gesellschaft?
Die SPD braucht Öffnung nach innen und nach außen. Wir haben vor vielen Jahren die Frauenquote eingeführt, weil eine Partei, die die Sichtweisen der Frauen nicht in sich aufnimmt, dümmer und weniger erfolgreich ist. Dabei ging es uns gar nicht darum, wer Recht hat, sondern alle Sichtweisen bei uns repräsentiert zu haben. Heute fehlen uns nicht nur Frauen, sondern oftmals auch die jüngeren Generationen der Facharbeiter, aktiver Betriebs- und Personalräte, Krankenschwestern, Polizisten, Handwerker, Selbstständige oder Ingenieure, das liberale Bürgertum, kritische Intellektuelle und die Umweltbewegung. Die müssen wir wieder in die Partei holen. Sich ihnen zu öffnen, für sie Angebote zu schaffen und ihnen die Zusammenarbeit anzubieten, auch wenn sie noch nicht Mitglieder der SPD sind, ist die zweite große Aufgabe, vor der wir stehen.

Und wie soll das gehen?
So schwer ist das gar nicht. Es gibt viele Beispiele in der SPD, wo erfolgreich so gearbeitet wird. Von offenen Listen zur Kommunalwahl bis zur Urabstimmung der Mitglieder über zentrale politische Fragen. Aber nur eine Partei, die weiß, was sie will, ist attraktiv. Dazu gehört, die Zerstrittenheit der SPD zu beenden und uns ohne Angst der Frage zu stellen, warum uns Wähler in alle Richtungen verloren gegangen sind.

Auf die Antwort bin ich gespannt.
Nur zu sagen, das liegt daran, dass die Leute über die Rente mit 67 und Hartz IV sauer waren, ist mir zu einfach. Natürlich sind das zwei Themen, die bei unserer traditionellen Wählerschaft zu einer massiven Verunsicherung geführt haben. Deshalb muss die SPD klären, wie die Menschen vor Altersarmut geschützt werden können. Das gilt auch für die Frage nach sozialer Sicherheit bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit. Wer 20 oder 30 Jahre gearbeitet hat und am Ende den gleichen Sozialhilfesatz bei Hartz IV bekommt wie derjenige, der noch nie gearbeitet hat, empfindet das als zutiefst ungerecht. Im Kern geht es bei beiden Fragen um das Verhältnis von Arbeit und sozialer Sicherheit. Da werden wir unsere bisherigen Antworten verändern, weiter entwickeln und zum Teil auch ganz neu finden müssen.

Also die Rente mit 67 kippen?

Ich glaube nicht, dass uns irgendetwas damit geholfen wäre, wenn wir jetzt einfach sagen würden: Weg mit der Rente mit 67 und weg mit Hartz IV. Wir würden damit weder die Probleme der Altersarmut noch die der Finanzierung der Rentensysteme oder der Arbeitslosenversicherung lösen. Deshalb gilt auch hier: Lasst uns in Ruhe von unten nach oben und in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften, Sozialverbänden und anderen die Antworten der SPD auf das Verhältnis von Arbeit und sozialer Sicherheit neu finden. Dazu gehört auch ein eigener Entwurf für ein gerechtes Steuersystem in Deutschland. Insgesamt muss die SPD als Volkspartei ihren Politikentwurf erneuern. Der konzentriert sich nicht nur auf ein Thema oder eine Gruppe in unserem Land. Sozialdemokraten stehen immer für die Verbindung von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, sozialer Sicherheit und ökologischer Verantwortung. Das unterscheidet uns von anderen Parteien, die immer nur vorgeben, sich um eine dieser drei Aufgaben zu kümmern.

Viele sehen die Partei als etwas Herzloses. Ist Emotionalität verloren gegangen?

Willy Brandt hat mal von Compassion, von sozialer Empathie gesprochen. Das heißt für uns Sozialdemokraten, die Fähigkeit zu haben, das Leben von Menschen durch deren Augen zu sehen. Eben nicht nur Sozialtechnokraten zu sein. Wenn die SPD erfolgreich war, dann wusste sie immer auch, welche Hoffnungen die Menschen haben und worunter sie leiden. Wir wollten uns mit diesem Leid nicht abfinden, weder im eigenen Land noch in der Welt. Der Pädagoge Hartmut von Hentig hat mal gesagt, die Schule müsse Menschen stärken, Sachen klären – in dieser Reihenfolge. Das ist ein gutes Motto auch für die SPD. In Regierungszeiten aber konzentrieren wir uns oft auf das „Sachen klären“, und vergessen zu erklären, welches Menschenbild für uns dahinter steht.

Können wir trotzdem selbstbewusst zurückblicken?
Zunächst einmal haben wir eine ganze Menge bewirkt, um die Gesellschaft zusammenzuhalten: Ohne Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Olaf Scholz wären Millionen Menschen mehr in Deutschland arbeitslos. Und auch vor der Krise waren es doch die SPD-Ver­treter in den letzten elf Jahren, die die Jugendarbeitslosigkeit gesenkt, die Ganztagsschulen ausgebaut und die Schulden abgebaut haben. Ohne uns hätte es keinen Ausstieg aus der Atomenergie, keinen Einstieg in die Erneuerbaren Energien und auch keine 280 000 neuen Arbeitsplätze gegeben. Das sind nur einige wenige Beispiele, was sich alles unter sozialdemokratischer Regierung getan hat. Wir tun gut daran, stolz darauf zu sein.

Was hat die SPD verschlafen?
Natürlich haben wir auch Dinge versäumt oder falsch gemacht. Sonst wären wir ja nicht abgewählt worden. Es ist eben eine Tatsache, dass der Zugang zur Bildung in Deutschland stärker vom Einkommen der Eltern abhängt als irgendwo sonst in Europa. Das ist auch ein Vorwurf an uns selbst. Die Leih- und Zeitarbeit hat zugenommen, die Kinderarmut auch. Der Aufstieg wird immer schwieriger, Abstieg geht schneller. Darüber haben wir zu reden.

Wer sind die Zielgruppen für die SPD?
Wir haben in den vergangenen Jahren in alle Richtungen verloren. Die einen fühlen sich durch den Ausbau der Leih- und Zeitarbeit in ihren Interessen bedroht. Andere haben die Sorge, nach einem unverschuldeten Verlust des Arbeitsplatzes schnell auf Hartz-IV-Niveau zu landen. Manche haben auch schlicht den Eindruck, sie seien gar nicht auf dem Radarschirm der SPD. Denn obwohl sie Leistungsträger sind, obwohl sie hart arbeiten, sind sie nicht in unserem Blickfeld. Das gilt für die Kreativwirtschaft genauso wie für das Handwerk. Wir müssen auch ihnen Angebote machen.

Deutschland ist Einwanderungsland. Ohne Einwanderung würden die sozialen Sicherungssysteme weiter unter Druck geraten. Ist die SPD eine Partei für die Einwanderer?
Zunächst einmal ist sie die Partei für die hier Lebenden, egal woher sie oder ihre Eltern ursprünglich mal gekommen sind. Es geht darum, ihnen in unserem Land die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben zu geben. Gleichzeitig sind wir gut beraten, das Bildungspotenzial zu nutzen, das wir bei Kindern und Jugendlichen aus Einwandererfamilien haben. Viele sind sehr bildungsnah und bildungsbewusst. Aber wir wissen auch, dass manche ein distanzierteres Verhältnis zu Bildung und Aufstieg haben, als wir uns das in Deutschland wünschen. Die müssen wir stärker integrieren, vor allem durch Spracherwerb. Auch dafür brauchen wir Ganztagsschulen. Und am Nachmittag muss da mehr stattfinden als die Verlängerung des Vormittagsunterrichts.

Bildung gibt es nicht zum Nulltarif.
Nein, allein dafür fehlen 20 bis 25 Mil­liarden. Es ist absurd, dass die neue Regierungskoalition 24 Milliarden Euro Steuersenkungen an Leute weiter gibt, die es in Wahrheit nicht brauchen, und gleichzeitig dafür sorgt, dass in den Ländern, die diese Steuerreform mitfinanzieren müssen, dieses Geld für Bildung fehlen wird. Die Menschen werden diese schwarz-gelben Steuergeschenke daher noch bitter zu spüren bekommen.

Ist unser Schulsystem auf diese bunter werdende Gesellschaft überhaupt eingestellt?

Ganz sicher nicht. Warum sind skandinavische Staaten in dieser Frage erfolgreicher? Weil dort an den Ganztagsschulen Psychologen, Sozial-, Sport-, Theater- und Kulturpädagogen arbeiten. Die sind integraler Bestandteil von Schule. Schu­le und Ausbildung ist dort ein päda­go­gisches Gesamtkunstwerk. So etwas kann man aber nur machen, wenn man das entsprechende Geld zur Verfügung stellt. Ich glaube, dass es nicht reicht, die schwarz-gelbe Koalition für den Unsinn, den sie in der Haushalts- und Steuerpolitik macht, zu kritisieren. Wir müssen auch klare programmatische Alternativen benennen. Wenn ich mir eine Steuerreform vorstelle, dann so, dass man die Städte und Gemeinden finanziell entschieden besser stellt – nicht nur durch den Erhalt der Gewerbesteuer.

Welche Rolle spielt in Zukunft die Kommunalpolitik für die SPD?
Wenn Integration funktioniert, dann dort, wo die Menschen wohnen. Also in den Städten und Gemeinden. Deswegen ist eine der Auf­gaben der Sozialdemokratie, ihre Kommunalpolitiker stärker in die politische Willensbildung einzubinden. Ich stelle mir vor, dass ich gemeinsam mit der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik so etwas wie eine ständige Konferenz der Oberbürgermeister, Bürgermeister und Landräte beim SPD-Parteivorstand einberufe.

Also nicht nur den Gewerkschaftsrat, auch den Bürgermeisterrat?

Ja. Ich habe mich immer gefragt: Warum gibt es eigentlich eine Ministerpräsidentenkonferenz und keine Konferenz der Oberbürgermeister und Landräte? Selbst in Zeiten wirklich schwieriger Wahlergebnisse für die SPD auf Bundes- und Landesebene nehmen sich einige SPD-Bürgermeister und Landräte das Recht, haushohe Siege einzufahren und zwischen 60 und 80 Prozent der Stimmen zu bekommen. Vielleicht sollten wir die mal fragen, wie man das macht!

Wie kann man die Mitglieder in der Partei wieder begeistern?

Sozialdemokratie lebt vom Hoffnungsüberschuss. Menschen in der SPD sind nicht bereit, sich zu engagieren, wenn wir ihnen sagen, wir stellen euch mal das kleinste Übel vor. Ich glaube, dass man sozialdemokratische Politik nur dann machen kann, wenn man ohne übertriebenes Pathos sagt, eigentlich wollen wir  die Welt verändern. Wir wollen nicht die besten Gesetzestechniker werden, sondern sagen: Mensch, wir finden, dass es ungerecht zugeht bei uns und in der Welt. Und an diesem Zustand wollen und müssen wir etwas ändern.  Sozialdemokraten zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur auf die Not im eigenen Land schauen, sondern auch die Not in anderen Ländern bekämpfen.

Muss der neue Vorsitzende mit der neuen Generalsekretärin und dem neuen Vorstand so etwas wie eine Renovierungsphase beginnen?
Renovieren ist ein schönes Bild, weil das heißt, dass das Fundament, die Mauern, die Tragfähigkeit des Hauses SPD intakt sind – wenn auch nicht überall im Top-Zustand. Vor allen Dingen aber müssen die Bewohner des Hauses mal zu einer Bewohnerversammlung zusammenkommen und sich vornehmen, dass diese Renovierung nur gemeinsam gelingt. Ich glaube, die SPD ist nach wie vor eines der attraktivsten Wohngebäude, das Europa und Deutschland zu bieten hat.

In Dresden hat 1903 schon mal ein Parteitag stattgefunden. Auf dem kam es zu einem großen Streit …
… Streit schadet der SPD nicht. Aber wichtiger als das Datum 1903 ist das Jahr 1959. Da haben wir, die SPD, den programmatischen Abschluss einer Entwicklung vollzogen, von der Arbeiterpartei zur Volkspartei. Das war Godesberg. 50 Jahre später haben wir erneut zu bedenken, was heute das allgemeine Wohl ist und wie wir es heute vertreten wollen. Es ist 40 Jahre her, dass Willy Brandt, „mehr Demokratie wagen“ forderte. Vielleicht wäre heute das richtige Motto für die Sozialdemokratie „mehr Politik wagen“. Die SPD braucht sicher ihre Flügel. Wenn man hoch fliegen will, braucht man eben Flügel. Zur Zeit allerdings sind wir auf dem Boden und müssen erst mal wieder richtig laufen lernen. Das erfordert Geschlossenheit. Denn bekanntlich macht erst Einigkeit stark.

Interview Uwe-Karsten Heye, Jörg Hafkemeyer; Fotografie Dirk Bleicker