90 Jahre AWO
Zwei Jubiläen, eine Frau: Gleich zwei Mal steht das Jahr 1919 im Zeichen der Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Marie Juchacz. Als erste Frau überhaupt hielt sie am 19. Februar 1919 in einem deutschen Parlament eine Rede.
Und noch im gleichen Jahr, am 13. Dezember 1919, rief Juchacz den „Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt“ beim Parteivorstand der SPD ins Leben. Die Arbeiterwohlfahrt war geboren – und mit ihr die Idee der modernen Wohlfahrtspflege.
Fehlende Erfahrung
Mit Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts im Jahr 1919 wurden erstmals auch Sozialdemokratinnen in die Parlamente von Städten und Gemeinden, in Landtage und in den Reichstag gewählt. Viele der Frauen in den Gemeindeversammlungen waren in der Armen- und Jugendfürsorge tätig. Noch fehlte ihnen aber die nötige Erfahrung sowohl in der Partei- als auch in der praktischen Gemeindearbeit. Selten war beides aufeinander abgestimmt, Fürsorgestellen mussten ebenso schnell wieder geschlossen werden, wie sie geöffnet worden waren – zum Unmut der Not leidenden Bevölkerung und zum Missfallen der Parteifunktionäre, die eine Schädigung des Parteiamtes befürchteten.
Als Marie Juchacz im August 1919 aus Weimar nach Berlin zurückkehrte, hielt sie es deshalb für unumgänglich, alle Kräfte der parteilichen Wohlfahrtsarbeit in einer eigenständigen Organisation zusammenzufassen. Der Plan für eine sozialdemokratische Wohlfahrtspflege als Gegenpart zur bürgerlichen Wohltätigkeit war geboren. Nur wenige Monate später, am 13. Dezember 1919, erhielt Marie Juchacz die Zustimmung des Parteiausschusses der SPD zur Gründung der Arbeiterwohlfahrt, deren erste Vorsitzende sie wurde und bis 1933 bleiben sollte.
Solidarische Selbsthilfe
Grundgedanke der neuen Arbeiterwohlfahrt war die solidarische Selbsthilfe der Arbeiterschaft statt gönnerhafter Wohlfahrt durch bürgerliche Organisationen. Verbunden damit war gleichsam der Auftrag, an den „überkommenen armenrechtlichen und polizeilichen Maßnahmen“ zu sägen und sie „durch solche vorbeugender, heilender und vorsorgender Natur zu ersetzen“, wie es die Sozialreformerin Helene Simon auf der ersten Reichskonferenz der Arbeiterwohlfahrt im Jahr 1921 propagierte. Statt nach Würdigkeit und Unwürdigkeit oder nach Schuld und Sühne zu fragen, erklärte Simon damals, gehe es nur um eines: „Der Heilbare sei zu heilen, der Unheilbare zu versorgen.“
Marie Juchacz war wichtig, dass die Arbeiterwohlfahrt nicht nur im Dienste der Arbeiterschaft stand, sondern sich gleichzeitig aus ihr heraus organisieren sollte. Gleichwohl band die Sozialdemokratin auch andere Kräfte in die Arbeit der Organisation ein: Frauen aus der bürgerlichen Frauenbewegung gewann sie für die Verbandsarbeit ebenso wie SozialdemokratInnen des eigenen und des fremden Lagers, selbst vor Parteigrenzen machte Juchacz nicht Halt, wenn es nur dem Ziel der Arbeiterwohlfahrt diente.
Neue Kraft der Frauen
Eine entscheidende Rolle in den Aufbaujahren der Arbeiterwohlfahrt haben ganz sicher die Frauen gespielt, die in diesen Jahren nach Einführung des Frauenstimmrechts zu neuer Kraft gelangten. In dem zentralen geschäftsführenden Vorstand der Arbeiterwohlfahrt hatten sie die Mehrheit, dem ersten Beirat gehörten damals 18 Frauen und zwölf Männer an. In den Landes- und Bezirksausschüssen, in den großen Städten ebenso wie in den meisten Kreis- und Ortsausschüssen standen überwiegend Frauen an der Spitze. Sie kannten das Elend des Proletariats aus eigener Erfahrung und waren gleichzeitig Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht gewesen. In Marie Juchacz fanden sie eine Frau, die ihre Vorstellungen von politischer Frauenarbeit und sozialdemokratischer Wohlfahrt in Personalunion verkörperte.
In einem Interview, das Marie Juchacz anlässlich der zweiten Reichskonferenz im Oktober 1949 in Solingen gab, sagte die Sozialdemokratin: „Mir war nichts so selbstverständlich wie diese Gründung. Es war, als wenn dadurch nur ein Schlusspunkt unter eine Entwicklung gesetzt wurde.“ Tatsächlich hatte Juchacz mit der Gründung der Arbeiterwohlfahrt eine tiefgreifende Entwicklung in der freien Wohlfahrtspflege eingeleitet, die noch heute zu spüren ist: fest verankert im Wurzelboden der deutschen Arbeiterbewegung und eingebettet in das Gesamtsystem einer sozialen Politik.